Crashtests 2010
Zu Fuß, auf dem Sattel, hinterm Steuer – wie gefährlich ist der Stadtverkehr?
1. Juli 2010 | Unfallversicherung Drucken | Weiterempfehlen |Autos, Fahrräder, Fußgänger, Lastwagen, Straßenbahnen und Busse – nirgendwo ist der Verkehr so vielfältig, hektisch und unübersichtlich wie in der Stadt. Und nirgendwo ist er so gefährlich. Zwei Drittel aller Unfälle ereignen sich innerorts – mit schweren Konsequenzen vor allem für die schwächsten Verkehrsteilnehmer. In ihren aktuellen Crashtests zeigen AXA und DEKRA häufige und neue Unfallszenarien und Wege, wie der Verkehr in den Städten sicherer gemacht werden kann.
Zwei Drittel aller Verkehrsunfälle ereignen sich innerorts. 221′306 waren es im Jahr 2008 in Deutschland, 13′677 in der Schweiz. Zwar sind die gefahrenen Geschwindigkeiten in der Stadt in der Regel relativ gering und Autofahrer haben deshalb gute Chancen, bei einem Unfall mit einem Blechschaden davon zu kommen. Aber in der Stadt sind auch besonders viele schwache Verkehrsteilnehmer unterwegs: Fußgänger, Fahrrad-, Mofa- und Rollerfahrer. “Der Stadtverkehr ist eine gefährliche Mischung”, sagt Bettina Sinzig, die bei der AXA Winterthur Schweiz den Bereich Unfallforschung leitet. “Nirgendwo sonst treffen so häufig starke auf schwache Verkehrsteilnehmer. Und gerade die Schwachen zahlen einen hohen Preis dafür.”
Grosses Potenzial für die Prävention
Jahr für Jahr werden in der Schweiz innerorts zwischen 40 und 50 Fußgänger getötet, weitere 2000 werden zum Teil schwer verletzt. In Deutschland verunfallten 2008 auf städtischem Gebiet 35′882 Fußgänger. 470 davon starben. “Dank Airbag, Verbesserungen am Fahrzeug und Sicherheitsgurten hat sich die Verletzungsbilanz bei Autofahrern generell und vor allem bei geringeren Geschwindigkeiten stark verbessert”, diagnostiziert Jörg Ahlgrimm, Leiter der Unfallanalyse bei der DEKRA: “Schwache, ungeschützte Verkehrsteilnehmer profitieren von den Verbesserungen an Fahrzeugen bisher nur sehr wenig. Für sie ist entscheidend, dass sich Unfälle erst gar nicht ereignen.”
Die Unfallexperten von AXA und der DEKRA haben deshalb Unfälle im Stadtverkehr systematisch untersucht und sind der Frage nachgegangen, mit welchen Maßnahmen die Sicherheit erhöht werden könnte. Dabei haben sie bereits bekannte, immer wieder unterschätzte Unfallszenarien analysiert. Sie haben aber auch Gefahrenquellen identifiziert, die in der Zukunft an Bedeutung gewinnen werden. Dass hier frühzeitig präventiv eingegriffen werden muß, zeigen die Crashtests von AXA und der DEKRA mit großer Deutlichkeit.
Gefährdete Fahrradfahrer
Zu den besonders gefährdeten Personen im Stadtverkehr gehören Fahrradfahrer. 72′294 Unfälle innerorts mit Beteiligung von Fahrradfahrern verzeichnet die deutsche Unfallstatistik für das Jahr 2008. 285 Fahrradfahrer wurden dabei getötet, 12′365 schwer verletzt. In der Schweiz starben im gleichen Jahr 17 Fahrradfahrer auf den städtischen Straßen, 635 wurden schwer verletzt. Insgesamt ereigneten sich 2743 Fahrradunfälle innerorts, was 84 Prozent aller Fahrradunfälle im ganzen Land entspricht. In weit über der Hälfte der Fälle kollidierte der Fahrradfahrer mit einem Auto.
Für die Unfallforscher von AXA und der DEKRA steht angesichts dieser Zahlen fest, dass in den Städten mehr in die Sicherheit der Fahrradfahrer investiert werden muß. Dabei steht der Bau von Radwegen mit eigener Fahrbahn im Vordergrund, die sowohl von der Straße als auch vom Fussweg deutlich abgetrennt sind. Auch bei Kreuzungen muß der Fahrrad- und der Autoverkehr wenn immer möglich entflochten werden. Auch die Fahrradfahrer selber könnten freilich mehr für ihre Sicherheit tun. In der Schweiz ist die Helmtragquote zwar von 14 Prozent im Jahr 1998 auf 39 Prozent im Jahr 2006 gestiegen, konnte seither aber nicht mehr erhöht werden. “Ein Helm kann die Verletzungsgefahr erheblich verringern”, sagt dazu AXA Winterthur Schweiz-Unfallforscherin Bettina Sinzig mit Blick auf weiterführende Tests. “Ich bin deshalb sehr froh, dass bei den bis 14-Jährigen bereits 70 Prozent einen Helm tragen. Bedenklich ist aber, dass diese Quote bei den 15 bis 29-jährigen nur bei 30 Prozent liegt. Hier muß dringend etwas geschehen.”
Trügerische Elektrobikes
Dies ist umso wichtiger, als im Stadtverkehr eine neue Gefahrenquelle auftaucht. Mit Elektro-Bikes können auch untrainierte Fahrer Geschwindigkeiten bis zu 45 km/h erreichen. Die praktischen Gefährte erleben derzeit einen wahren Boom; die Verkaufszahlen verdoppeln sich im Jahresrhythmus. Die Geschwindigkeit der E-Bikes birgt allerdings auch die Gefahr der Fehleinschätzung durch andere Verkehrsteilnehmer. Bettina Sinzig: “Wir verlassen uns im Alltag auf unsere Erfahrung. Und die sagt uns, dass beispielsweise ein älterer Herr auf einem Fahrrad eher gemächlich unterwegs ist. Nur: Mit einem E-Bike ist auch er vielleicht 40 km/h schnell – und schon kommt es zum Unfall.” In einem Crashtest haben die Experten von und der DEKRA eine Kollision eines E-Bikes mit einer sich öffnenden Autotür durchgespielt. Der Unfall hätte bei einem Menschen zu schweren Kopf- und Brustverletzungen geführt. Die Unfallforscher von AXA und der DEKRA fordern deshalb für die Fahrer schneller Elektro-Bikes eine Helmtragepflicht. Zudem sei es wichtig, die Verkehrsteilnehmer dafür zu sensibilisieren, dass es bei Fahrradfahrern leicht zu gefährlichen Fehleinschätzungen der Geschwindigkeit kommen kann.
Fußgängerschutz ist Pflicht
Die Stadt ist auch für Fußgänger ein gefährliches Pflaster. Über 90 Prozent aller Fußgängerunfälle ereignen sich innerorts, die meisten davon auf dem Fußgängerstreifen. 1964 führte Deutschland den Vortritt für Fußgänger auf dem Fußgängerstreifen ein. 1994 folgte die Schweiz dieser Regelung. Man hoffte, dass es damit zu weniger Missverständnissen zwischen Verkehrsteilnehmern und in der Folge zu weniger Unfällen kommen würde. Doch der Effekt blieb aus. Jedes Jahr werden in der Schweiz zwischen 1000 und 1250 Fußgänger auf dem Fußgängerstreifen angefahren, 4956 Fußgänger verunfallten 2008 in Deutschland auf dem scheinbar sicheren Streifen.
Mit einbrechender Dunkelheit verlagert sich das Unfallgeschehen dagegen stärker an den Straßenrand. Die Unfallquote im Längsverkehr steigt von 28 Prozent bei Tageslicht auf 45 Prozent in der Nacht. Dass Fußgänger in der Nacht leicht übersehen werden, liegt einerseits an zum Teil mangelhafter Straßenbeleuchtung; andererseits aber auch an der schlechten Sichtbarkeit von Fußgängern mit dunkler Kleidung.. “Fußgänger werden viel zu spät erkannt”, sagt Jörg Ahlgrimm, “einerseits sind die Pkw-Fahrer oft abgelenkt, andererseits muß die Auffälligkeit von Fußgängern bei Dunkelheit dringend verbessert werden.”
Unterschätzte Geschwindigkeit
Zu ihrer eigenen Sicherheit sollten sich Fußgänger immer wieder bewusst werden, dass sie in der Stadt Gefahren ausgesetzt sind. Vorsicht an und auf der Straße sowie helle und in der Nacht reflektierende Kleidung sind deshalb wichtige Gebote. Auch bei den Automobilisten sind Vorsicht und Aufmerksamkeit gefragt – gerade auch mit Blick auf die Geschwindigkeit. Wie ein Crashtest zeigt, hat bereits eine Kollision mit 30 km/h mit einem erwachsenen Fußgänger erhebliche Verletzungen zur Folge. Allerdings ist die Ãœberlebenswahrscheinlichkeit in diesem Fall hoch. Bei einer Aufprallgeschwindigkeit von 60 km/h verläuft der Unfall hingegen fast immer tödlich.
Die Experten von AXA und der DEKRA raten Autofahrern zum Kauf von Fahrzeugen mit aktiven Sicherheitssystemen, welche Fußgänger automatisch erkennen und eine Bremsung einleiten. Zu achten ist ferner auch darauf, dass die Fahrzeugfront moderner Personenwagen mit passiven Elementen zum Fußgängerschutz ausgestattet sei. “Viel zu tun gibt es aber auch beim Straßenbau”, sagt Jörg Ahlgrimm, “Verkehrsinseln verkürzen den Ãœberquerweg und Verengungen sind geeignet, die Geschwindigkeit der Autos an kritischen Stellen zu reduzieren. Bessere Beleuchtungen und Signalisationen erhöhen die Aufmerksamkeit dort, wo Fußgänger die Straße queren.”
Schlechte Sicht – tödliche Gefahr
Zu gefährlichen Situationen kommt es im Stadtverkehr immer wieder mit Last- und Lieferwagen. Wegen des geschlossenen Laderaums und ihrer hohen Sitzposition haben Lastwagenfahrer oft nicht im Blick, was sich hinter oder direkt vor und neben ihrem Fahrzeug abspielt. Spiegelsysteme helfen, diesen toten Winkel zu verkleinern; ganz eliminieren können sie sie aber nicht. Kameras zur Überwachung des Fahrzeugumfelds sind bisher nur wenig verbreitet. Sind Fahrradfahrer und Fußgänger nicht achtsam, können sie deshalb leicht von einem Lastwagen erfasst werden, ohne dass dessen Fahrer dies überhaupt bemerkt. Dies gilt besonders beim Rechtsabbiegen, bei Rückwärtsfahrten oder anderen Rangiermanövern. Ein respektvoller Abstand zu den Brummis ist allen Verkehrsteilnehmern deshalb immer wieder zu empfehlen. Fahrradfahrer und Fußgänger sollten bei Lastwagen immer davon ausgehen, dass sie vom Fahrer nicht gesehen werden. Die Lastwagenfahrer selbst wiederum sind aufgefordert, Rück- und Seitenspiegel vor jeder Fahrt optimal einzustellen und nur mit Unterstützung einer Begleitperson zu rangieren.
Tödliche Gefahr kann selbst von stillstehenden Lastwagen ausgehen. Eine zur Be- oder Entladen aufgeklappte Ladebordwand ist ein extrem formaggressives und schlecht sichtbares Gebilde mitten auf der Straße. Wie ein Crashtest von AXA und der DEKRA mit 60 km/h zeigt, haben Autofahrer bei einer Kollision mit einer solchen Hubladebühne dort keinerlei Überlebenschance, wo die Ladebordwand in den Fahrgastraum eindringt. Wichtig ist es deshalb, dass eine Kollision von vornherein vermieden wird. In Deutschland gelten diesbezüglich klare Vorschriften: Gut sichtbar muß mit zwei Blinklichtern sowie retroreflektierenden, rot-weißen Markierungen vor heruntergeklappten Hubladebühnen gewarnt werden. In der Schweiz sind lediglich gelb-schwarze oder rot-weiße Streifen an die Hubladebühne anzubringen. Das reicht nach Einschätzung der Unfallforscher von AXA und der DEKRA nicht. Sie fordern, dass auch in der Schweiz wenigstens die Beleuchtung heruntergeklappter Hubladebühnen zur Vorschrift wird. Zudem schlagen sie vor, die Fahrzeuge am Straßenrand zusätzlich mit Pylonen zu kennzeichnen und appellieren an die Lastwagenfahrer, Ladebordwände auch bei kurzem Nichtgebrauch sogleich ganz abzusenken oder hochzuklappen.